"Deutschland ist ein Land mit Migrationshintergrund"

Schwerpunktthema: Rede

Istanbul/Türkei, , 22. April 2024

Bundespräsident Steinmeier hat zum Auftakt seiner dreitätigen Reise in die Republik Türkei am 22. April den Bahnhof Sirkeci in Istanbul besucht, von dem in den 1960er Jahren viele Türkinnen und Türken nach Deutschland aufbrachen.

Bundespräsident Steinmeier hält eine Ansprache bei seinem Besuch des Bahnhofs Sirkeci

Ich stehe auf dem Bahnsteig. Unverständliche Stimmen klettern in meine Ohren, bauen dort ihr Gerüst auf. Zwischen meinen zitternden Beinen der Holzkoffer, in ihm sind Welten, Welten … Wie klein die Welt doch ist.

So erzählt Dinçer Güçyeter in seinem Buch "Unser Deutschlandmärchen", wie seine Mutter Fatma in Deutschland ankam. Man kann sie sich am Bahnhof vorstellen, als junges Mädchen mit ihrem Koffer, wahrscheinlich unsicher und etwas verloren – verloren in einer neuen, einer fremden Welt.

An diesem Bahnhof hier begannen viele Geschichten wie die der jungen Fatma, Geschichten von Neugier und Angst. Von hier sind hunderttausende Türkinnen und Türken in den 1960er Jahren als sogenannte Gastarbeiter nach Deutschland aufgebrochen: Istanbul-München als Direktverbindung – Wie klein die Welt doch ist.

Der Sirkeci Bahnhof ist ein Symbol für den Aufbruch ins Unbekannte. Am Ende dieser Reise ins Ungewisse warteten erst einmal Heimweh, Entbehrung, Anstrengung. So vieles war neu: eine neue Sprache, neue Nachbarn und Kollegen, eine neue Kultur. Man kann sagen: ein ganzes neues Leben. Ein Leben zwischen Hoffnung und Scheitern. Heute leben in unserem Land fast drei Millionen türkeistämmige Menschen, die unsere Gesellschaft mitprägen und mitgestalten. Sie haben unser Land mit aufgebaut, sie haben es stark gemacht und sie gehören ins Herz unserer Gesellschaft. Dafür stehen beispielhaft einige der Gäste, die mich auf dieser Reise in die Türkei begleiten: beeindruckende Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik, aus Kunst und Literatur, aus Film und Gastronomie. Nicht wenige von ihnen kennen diesen Bahnhof Sirkeci aus den Geschichten ihrer eigenen Familie.

Dieser Bahnhof steht für die enge Verbindung zwischen unseren beiden Ländern. Entworfen von dem deutschen Architekten August Jachmund, war er der letzte Halt des Orient-Express, der Orient und Okzident miteinander verband.

Vergessen wir aber nicht: Die deutsch-türkische Migrationsgeschichte verlief nicht nur in eine Richtung. Armut und Arbeitslosigkeit trieben im 19. Jahrhundert Handwerker aus Deutschland nach Anatolien. Die Bosporus-Deutschen wurden hier mit offenen Armen empfangen. Inzwischen leben sie in vierter und fünfter Generation in der Türkei. Und in der dunkelsten Zeit unserer Geschichte wurde die Türkei ein Zufluchtsort nach 1933 für viele deutsche Künstler und Intellektuelle.

Während Deutsche in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die neue Hauptstadt Ankara mitentwarfen und -bauten, waren es die Gastarbeiter aus der Türkei, die seit den 1960er Jahren die Wirtschaft der jungen Bundesrepublik mit aufbauten und die mittlerweile auch in vier Generationen entscheidend zu unserem Wohlstand beitragen. Wenn wir in Deutschland in einem Monat den 75. Geburtstag unserer Bundesrepublik feiern, dann tun wir das in dem Bewusstsein, dass die Millionen Geschichten türkisch-deutscher Einwanderer Teil unserer Geschichte sind. Sie sind nicht Menschen mit Migrationshintergrund – Deutschland ist ein Land mit Migrationshintergrund. Deshalb war es mir wichtig, vor dem Grundgesetzjubiläum noch einmal in die Türkei zu kommen. Denn was wir hier sehen und hören: Ihre Geschichten, sie sind ein Stück türkische Geschichte und eben auch ein Stück deutsche Geschichte. Sie gehören zu dem, was uns inzwischen ausmacht.

Es sind diese besonderen und intensiven Beziehungen, die heute Distanzen und auch manche Differenz überbücken. Wie existenziell wichtig sie sind, das zeigt sich insbesondere in Krisensituationen. Nach dem verheerenden Erdbeben hier im Südosten der Türkei war die Solidarität groß, gerade in Deutschland. Deutschland stellte den größten bilateralen Beitrag zur Verfügung, Hilfsgüter und Gelder für die humanitäre Hilfe. Aber auch ganz viele Privatpersonen halfen schnell und spendeten. Morgen besuchen wir die geschundene Region von Gaziantep und treffen Opfer des Bebens, Helferinnen und Helfer, und ich bin sehr gespannt auf diesen Besuch.

Wir sind noch nicht lang hier, gerade wenige Stunden, aber eines kann ich jetzt schon sagen: Wer als Deutsche oder Deutscher hierher kommt, wird mit offenen Armen empfangen. Das liegt auch, aber eben nicht nur an der türkischen Gastfreundschaft. Das liegt vor allem an den engen menschlichen Banden, die man im Alltag hier überall spürt. Praktisch jeder hier hat einen Onkel, einen Cousin oder eine Schwippschwägerin in Deutschland. Jeder hat eine Geschichte über Almanya zu erzählen. Sie alle kennen sicher den wunderbaren Film mit dem gleichnamigen Titel. Wie eng diese Bande sind, das zeigen nicht zuletzt die fünf Millionen deutschen Urlauber, die jedes Jahr in dieses wunderschöne Land kommen. Und natürlich auch die mehr als 50.000 Deutschen in der Türkei – übrigens eine der größten deutschen Communities weltweit –, die hier wiederum ihre Spuren hinterlassen.

Es ist also kein Zufall, dass wir unsere Reise heute hier am Bahnhof Sirkeci starten. Zwar kommt hier kein Tourist mehr an. Es rollt von hier auch kein Zug mehr nach Europa. Aber dieser Bahnhof ist ein steinernes Symbol für die jahrzehntelange Verbindung, die wir miteinander teilen. Eine Verbindung von Mensch zu Mensch.

Und um diese soll es jetzt gleich gehen. Danke, dass Sie alle hier sind, ich freue mich auf die Gespräche!